ETFs gelten als besonders transparente Anlageform, wozu auch die laufend veröffentlichten Bestandswerte beitragen, die indikativen Nettoinventarwerte, kurz iNAV. Ein iNAV soll den aktuell fairen Wert eines ETF-Anteils abbilden, allerdings kann dieser in einigen Situationen erheblich vom Börsenpreis abweichen. Wie entstehen in hochliquiden, vernetzten Märkten solche Differenzen und was bedeuten sie für Investoren?

Bei einem klassischen, aktiv gemanagten Investmentfonds berechnet die Fondsgesellschaft das gesamte Fondsvermögen und den Nettoinventarwert (NAV) einmal täglich, in manchen Fällen sogar nur einmal wöchentlich. Für den NAV wird das Fondsvermögen durch die Anzahl der umlaufenden Anteilsscheine geteilt. Daraus ergeben sich die An- und Verkaufspreise der Fondsgesellschaft, die entsprechend auch nur einmal täglich aktualisiert werden und in der Regel auf den Schlusskursen der Wertpapiere im Portfolio vom Vortag beruhen. Aus dem NAV ergibt sich der Rücknahmepreis, beim Verkauf wird der Ausgabeaufschlag hinzuaddiert. Dieser liegt bei Aktienfonds gewöhnlich zwischen 3 und 5 Prozent und stellt einen Verdienst der Fondsgesellschaften dar. Im börslichen Fondshandel stellen Market Maker fortlaufend An- und Verkaufspreise mit Hilfe von Referenzmodellen.

Für ETFs, die an einen Index gekoppelt sind, berechnet entweder der Fondsanbieter oder alternativ ein vom Emittenten beauftragter Dienstleister, z.B. eine Börse, während der Handelszeit den indikativen Nettoinventarwert (iNAV). Dies passiert in einer in der Regel vom Börsenplatz vorgegebenen Frequenz wie je Minute. Einige Börsenplätze schreiben iNAV-Berechnungen vor, so auch der größte europäische Handelsplatz Xetra, bei anderen erfolgen sie freiwillig. Für die Berechnung wird das Fondsvermögen auf Basis der Kurse der Einzelpositionen im Portfolio ermittelt und die Barmittel dazu addiert.

Im fortlaufenden Börsenhandel betreuen von den Anbietern beauftragte Authorised Particpants die ETFs und stellen verbindliche Kauf- und Verkaufskurse. Außerdem sind sie für den Creation/Redemption-Prozess zuständig, bei dem das Portfolio und respektive die ETF-Anteile aufgebaut, bzw. abgebaut werden. Häufig sind das Großbanken, die als Marktteilnehmer im Handel aktiv sind. Im Xetra-Handel sind das Designated Sponsors, mindestens einer ist fürs Listing vorgeschrieben.

Bei viel gehandelten ETFs können etliche Designated Sponsors tätig sein, bei exotischeren ist es häufig nur einer. Außerdem sind Market Maker aus eigenem Interesse aktiv, weil sie Interesse am jeweiligen Portfolio haben und durch die Tätigkeit als Kurspfleger diese günstig handeln können.

Die Qualität eines Designated Sponsors zeigt sich in der Handelspanne, dem Spread, also der Differenz zwischen dem angebotenen Geld/Brief-Quote. Maßgeblichen Einflussgröße auf den Spread haben außerdem Angebot und Nachfrage. Auch limitierte Aufträge anderer Marktteilnehmer können an der Spitze des Orderbuchs stehen und die Spanne verengen.

Transparenz der Marktpreise

Die Veröffentlichung des iNAV bieten ETF-Anlegern einen transparenten, objektiven Vergleich zwischen den an der Börse gehandelten Kursen und dem fairen Preis eines ETF. Mit Hilfe des iNAV können Anleger feststellen, wie weit die Geld-/Brief-Limite vom Nettoinventarwert abweichen. Im Idealfall bewegt sich der iNAV innerhalb der Kursspanne.  Dies funktioniert auch sehr gut bei ETFs, die Aktienindizes mit liquide gehandelten Bestandteilen der gleichen Zeitzone anbieten. Im großen ETF-Universum gibt es jedoch viele exotische Indizes, bei denen die Kursfeststellung der einzelnen Fondsbestandteile große Probleme bereiten kann, entsprechend auch die iNAV-Berechnung und die Preisstellung der Market Maker.

Berechnung des iNAVs

Der mit der Berechnung beauftragte Dienstleister erhält täglich eine Liste der im ETF-Sondervermögen enthaltenen Positionen mit den gehaltenen Einzelinvestments, den  Constituents und ihre Gewichtung sowie den Barbestand. Zusätzlich werden bei Bedarf noch Wechselkurse eingesetzt, wenn Fondswährung und Handelswährungen der Wertpapiere voneinander abweichen. Diese Listen werden auch veröffentlicht, so dass andere Market Maker tätig werden können.

Außerdem wird eine primäre Preisquelle für die Berechnung des iNAV vereinbart. Bei einem DAX-ETF bieten sich die Xetra-Preise an, an sich sehr unproblematisch. Für den Fall technischer Störungen in der Kursversorgung oder des Handels werden auch eine zweite oder dritte Preisquelle definiert, auf die im Falle einer fehlenden Information aus der primären Quelle zurückgegriffen wird. Teilweise werden bis zu fünf verschiedene Preisquellen für die Berechnung einer ETF-Position angelegt und mit Wenn-dann-Bedingungen verknüpft. Hinzu kommen noch eine Reihe von Entscheidungsparametern, die die Auswahl von letztem Preis, Geld/Brief-Quote oder Midpoint steuern. Ein Beispiel: Ist der letzte Preis einer Quelle älter als festgelegt, wird der Midpoint vom aktuellen Quote einer anderen Preisquelle eingesetzt.

Auch für die Wechselkurse werden Preisquellen definiert. Bei exotischen Währungen können Bedingungen aufgestellt werden, vergleichbar mit denen für einzelne Wertpapiere.

Physische Replikation großer Indizes

Bilden ETFs Indizes mit vielen Werten physisch ab, die teilweise kaum gehandelt werden, können iNAVs und angebotene Geld/Brief-Quotes abweichen. Der iNAV errechnet sich aus dem physischen Portfolio. Authorised Participants handeln im Rahmen des Creation/Redemption-Prozesses, sie kaufen und verkaufen die Wertpapiere, tauschen sie beim Anbieter gegen Anteile und beziehen im Handel ihre Geld/Brief-Quotes auf für sie realisierbare Preise des Baskets.

Unterschiedliche Zeitzonen

Stammt der abgebildete Index auf einer anderen Zeitzone, zum Beispiel aus Japan, dann ist der Primärmarkt während der europäischen Handelszeit geschlossen. Dies gilt auch für australische Goldminenaktien oder südamerikanische Staatsanleihen. Häufig wird in solchen Fällen der Schlusskurs am Heimatmarkt zur iNAV-Berechnung herangezogen und während der gesamten Handelszeit statisch gelassen. Sollte es nach Handelsschluss in Japan zu einem Börsencrash kommen, ist dieser nicht im iNAV berücksichtigt.

Die Market Maker lassen selbstverständlich den aktuellen Kursrückgang in ihre Preisstellung einfließen. Sie konstruieren sich eine Preisbasis aus Futures, dem OTC-Handel oder Aktienkursen europäischer Börsen, an denen japanische Aktien gehandelt werden, und versuchen über Korrelationen, eine möglichst realistische Idee zum „richtigen“ Kurs zu gewinnen. In solchen Fällen kann es zu sehr starken Abweichungen kommen.

Gut sichtbar ist die Zeitzonenanpassung am Nachmittag bei ETFs mit US-amerikanischen Aktien, wenn in den USA der offizielle Handel beginnt. Dann kommt es zu einem kleinen Sprung im iNAV und in den Quotes, weil beide nun die aktuellen Eröffnungskurse der US-amerikanischen Börsen als Basis haben.

Fehlende Kurse

Gerade bei den derzeit beliebten Anleihen-ETFs gibt es Wertpapiere, die selten gehandelt werden. Bei mittelständischen Anleihen kann es vorkommen, dass nur einmal im Monat ein Geschäft im Kassamarkt zustande kommt. Hier benutzt der iNAV meist den letzten Kurs. Sollten sich in der Zwischenzeit das allgemeine Zinsniveau oder der individuelle Credit Spread verändert haben, fließt dies nicht in die iNAV-Berechnung mit ein, wird aber natürlich vom Market Maker berücksichtigt.

Andere Beispiele sind geschlossene Börsenplätze bei gleichzeitig handelbaren ETFs, die deren Indizes gekoppelt sind. In Ägypten war im Februar 2011 die Börse mehrere Wochen geschlossen, trotzdem waren ägyptische Wertpapiere in Afrika- und Ägypten-ETFs enthalten.

Ebenfalls Einfluss hat die Dauer der Eröffnungsauktionen an Börsen wie Xetra oder die SIX Swiss Exchange. Bis nach Start der Auktion die Eröffnungspreise feststehen und der Handel läuft, können iNAVs der ETFs, deren Berechnung exakt zur Öffnungszeit beginnt, für einen Moment abweichen.

Falls keine Preise vorhanden sind oder Kapitalmaßnahmen die Preise verändern, können theoretische Preise für den iNAV herangezogen werden. Bei Ausschüttungen stellt sich die Frage, ob ein Netto- oder ein Bruttopreis zugrunde gelegt wird. Diese Punkte legen iNAV-Dienstleister und ETF-Anbieter fest. Es gibt je nach ETF und bis auf die Ebene der enthalten Wertpapiere Regeln zur iNAV-Berechnung wie Preisquellen, Kurstypen und Art der Berechnungen, sogenannte Price Patterns.

Volatile Marktphasen

In unsicheren Phasen mit starken Kursschwankungen, stellen Market Maker wegen des Risikos Quote mit breiteren Spannen, die alleine schon deshalb vom iNAV stärker abweichen. Zusätzlich entfernt sich auch die Mitte des Quotes, der Midpoint, der in normalen Marktphasen in der Nähe des iNAVs liegt, von diesem. Market Maker antizipieren zum Beispiel in einem reinen Verkäufermarkt die kommenden niedrigeren Kurse.

Kosten und Risiken der Designated Sponsors

Aufwände geben neben Risiken Anreize, Creation/Redemption abweichend vom iNAV auszuführen. Besonders bei illiquiden ETF mit hauptsächlich außerbörslich gehandelten Bestandteilen kann der veröffentliche Preis der iNAV-Preisquelle von den für Creation/Redemption bzw. Kauf oder Verkauf der ETF-Anteile der Authorised Participants benötigten bilateralen Preisen abweichen.

Auch beauftragte Authorised Participants haben keine Verpflichtung, Creation/Redemption für ETFs durchzuführen. Dies kann dazu führen, dass sie bei komplexeren ETFs oder in turbulenten Zeiten nur tätig werden, wenn sie mit einem Ab- oder Aufschlag gegenüber dem iNAV dafür bezahlt werden.

Ein Beispiel ist der Credit Suisse short VIX ETF (XIV), bei dem der Anbieter Credit Suisse den Authorised Participants die Auflage gemacht hat, sich bei der Credit Suisse gegen starke Schwankungen des VIX abzusichern. Diese Hedge-Kosten werden als zusätzliche Kosten an die Käufer der ETFs weitergegeben und haben in der Vergangenheit zu Abweichungen vom iNAV von bis zu 5 Prozent geführt.

Angebot und Nachfrage nach ETF-Anteilen

Angebot und Nachfrage im Handel mit den ETFs bestimmen an einer Börse den Preis. Dieser kann vor allem kurzfristig vom rechnerischen Preis stark abweichen. Ein Beispiel: In der aktuellen Bitcoin-Euphorie gibt es sehr wenige börsengehandelte Instrumente, mit denen ein Bitcoin-Investment möglich ist. Viele US-Amerikaner haben deshalb den bekanntesten Bitcoin-Fonds Grayscale Bitcoin Trust GTBC als Vehikel genutzt und mit der Nachfrage den Fondspreis im März in der Spitze auf über 36 Prozent Aufschlag auf dessen iNAV getrieben. Beim schnellen Abverkauf danach fiel der Kurs des Fonds auf 11 Prozent Abschlag gegenüber des iNAV. Dieses Phänomen der Angebotsverzerrung war vor einiger Zeit auch bei Gas-ETFs sichtbar.

In solchen Fällen lassen die Market Maker zudem ihre Absicherungskosten in den Quote einfließen. Dies ist nicht nur an einer Abweichung vom iNAV, sondern auch an der Breite der Geld-Brief-Spanne sichtbar.

Weitere Herausforderungen der Preisfindung liegen bei exotischen Währungspaaren, bestimmten Rohstoff-Futures und gehandelten Forwards.

Probleme mit der Berechnungsdatei

Die Basis der Berechnungen ist die jeweils aktuelle Datei mit den enthaltenen Wertpapieren und ihre Gewichtung. Wird diese Datei vom ETF-Anbieter dem iNAV-Berechner nicht oder fehlerhaft geliefert, kann die Berechnung des iNAV nur auf einer älteren Datei basieren, die möglicherweise vom aktuellen Portfolio abweicht.

Toleranzbreite der Abweichungen

Die Toleranzbreite bei einer Abweichung des iNAV vom Geld/Brief-Quote hängt von der Liquidität des ETFs und der enthaltenen Wertpapiere respektive von der Qualität der verwendeten Preise ab

Außerdem ist entscheidend, ob es sich um eine normale Marktphase oder um eine außergewöhnliche Marktsituation handelt, z. B bei Kurscrash, Eingriffen von Notenbanken und Regierungen, Restriktionen, Liquiditätsengpässe, Marktmanipulationen, etc.

Bildet ein ETF einen liquiden Bluechip-Index in der europäischen Zeitzone ab, sollte ein iNAV-Wert außerhalb der Geld/Brief-Spanne in normalen Marktphasen nicht vorkommen. Hat der ETF z.B. illiquide Unternehmensanleihen einer anderen Zeitzone im Basket und ist der Markt zusätzlich angespannt, so sind signifikante Abweichungen des iNAV vom Quote durchaus tolerierbar.

Fazit

Wenn potentielle Käufer oder Verkäufer eine größere Abweichung zwischen iNAV und angebotenem Quote feststellen, lohnt es sich, den Grund zu hinterfragen. Meistens liegt es an einer realistischeren Einschätzung der Market Makers inklusive ihres Absicherungspuffers. Manchmal kann es aber auch eine Fehlbewertung durch eine Verzerrung von Angebot und Nachfrage sein. Man sollte nicht nur auf die Breite des Quotes, sondern auch auf eine Abweichung der Mitte des Quotes zum iNAV schauen.